Gedanken zu Behinderung im Zusammenhang mit Kapitalismus oder Es braucht nur eine Millisekunde

Behinderung erscheint in der öffentlichen Wahrnehmung als sehr randständiges Thema. 70 Jahre nach dem das NS-Regime ungeniert seinen euthanistischen Plänen nach „Rassenhygiene“ frönte, markiert, selektiert und schließt die Gesellschaft Menschen mit „Norm-Abweichenden“ Eigenschaften weiterhin systematisch von existenziellen Institutionen und Ressourcen der Gesellschaft aus. Diese Erkenntnis ist sowenig neu wie die verbreiteten Ressentiments und Wertungen die mit der Markierung ‚Behindert’ einher gehen. Behindert ist als Fehler, als krank und leidvoll in den Sinneshorizont der Gesellschaft eingebrannt.

Aber wird denn nicht alles daran gesetzt ein gleichberechtigtes Leben für Menschen mit Behinderung in Deutschland zu ermöglichen? Themen wie Inklusion oder Barrierefreiheit finden in unregelmäßigen Abständen Zugang in den gesellschaftlichen Diskurs[1]. Politiker_innen und andere gesellschaftliche Stimmen inszenieren ihre Hilfsbereitschaft, wobei allerdings die Kostenfaktoren immer eine zentrale Rolle spielen. Beispielhaft ist hierbei das Engagement der 1929 gegründeten Verkehrsbetriebe einer größeren Stadt in Deutschland. Nachdem das Unternehmen den Holocaust und die Bombardierung der Stadt überlebte, floriert das Geschäft nun seit über 80 Jahren. Sogar so gut, dass man gleich mal alle Menschen in der Stadt liebt. ‚Wir lieben Euch alle’ ist der O-Ton dieser neuen Kampagne, die sich das Unternehmen vermutlich für einiges an Geld gegönnt hat. So werden alle sich in der Stadt aufhaltenden Menschen regelmäßig auf Deutsch informiert, dass sie von den Verkehrsbetrieben geliebt werden. Ob deswegen auch die Kosten fürs beim, vom Unternehmen „Schwarzfahren“ genannten fahren ohne Fahrschein von 40 auf 60 € erhöht wurden bleibt ungeklärt.

Neben den Fahrgästen ohne Fahrschein schließt das Unternehmen aber auch noch eine andere Gruppe von neoliberaler Liebe aus: Menschen für die Treppen ohne weiteres nicht zu überwinden sind. Zwar wird sich gerne damit gebrüstet im vergangenen Jahrzehnt mehrere Millionen in Fahrstühle und andere Barrierefreie Elemente gesteckt zu haben, doch zentrale, vom Tourismus hoch frequentierte Stationen bleiben für Menschen im Rollstuhl oder anderen Mobilitätsstützen, genauso wie Kinderwagen unerreichbar[2].

Es bleibt dabei, in einer Welt in der Menschen nach einem neoliberalen und kapitalistischen Nutzen bewertet werden, haben die Bedürfnisse und Lebenslagen von als ‚Anders’ markierten Menschen eine untergeordnete Funktion. Menschliche Körper werden in dieser Logik nach ihrer Nützlichkeit bzw. ihrer Produktivität hierarchisiert[3].

Ein Körper, dem generell dieser Zugang verweigert wird und sich dadurch teilweise nicht an der Produktion von z.B. Gütern beteiligen kann, wird in seinen Bedürfnissen auch nur sekundär berücksichtigt. Gleichzeitig wurde durch das System der ‚Behindertenwerkstätten[4] die Situation geschaffen, dass Menschen denen der allgemeine Zugang zur Lohnarbeit verwehrt wird, dieses System durch sehr niedrige Löhne in eben diesen Werkstätten unterstützen (müssen). Ausdruck davon ist dann, dass das öffentliche Leben größtenteils an mobilen und von der Medizin als ‚gesund’ angesehenen Körpern orientiert ist[5].

Während diese Ordnung den Alltag vieler Menschen in der Gesellschaft einschränkt und auf der anderen Seite vielen gar nicht auffällt bleibt ein weiterer Bereich weitgehend unberücksichtigt: Migration. Spätestens im Jahr 2015 haben die Festung Europa, der Diskurs über das Asylrecht in Deutschland und das Abschotten der EU Zugang zu fast allen Gesellschaftsgruppen und Stammtischen in Deutschland gefunden. Etliche rassistische Proteste und Diskurse greifen das Thema Behinderung und Migration selbstredend nicht auf, doch auch im Feld der Initiativen und Gruppen die sich für die Rechte von Geflüchteten und für ein Ende der Abschottungspolitik der EU einsetzen wird die Frage warum Menschen mit Behinderung nicht oder nur selten in Europa ankommen, nicht gestellt. Die Notwendigkeit überhaupt ‚körperlich fähig’ zu sein um die gefährliche und anstrengende Überfahrt nach Europa in Anspruch zu nehmen wird vollends ignoriert. Die Grenzzäune sind für Menschen die, um zu überleben auf andere Menschen bauen und vertrauen müssen noch viel höher, das Meer ist für sie noch viel länger und gefährlicher als es schon ist und die Konsequenz von Dublin III noch viel viel härter.

Mittlerweile wurde auch von der Bundesregierung, im Zusammenhang mit der Erkenntnis über eine alternde Gesellschaft – erkannt, dass Migration mitunter auch nützlich sein kann. Sehr produktive Körper[6], sogenannte ‚Fachkräfte’ bekommen einen bevorzugten Zugang. Neben den migrantischen Körpern die schon seit Jahren auf dem niedrigentlohnten und illegalisierten Markt ausgebeutet[7] werden und den Wohlstand vieler Europäer_innen sichern, werden auch die neoliberal nicht zu gebrauchenden Körper in diesem Wandel der Migrationspolitik konsequent ausgeklammert.

Diskurse und der alltägliche Sprachgebrauch formen dies und machen es noch schwieriger aus dieser Logik auszubrechen. Während sich Armutsdiskurse in der Gesellschaft a la ‚Florida Rolf’[8] auf den restriktiven Umgang mit Hartz IV Empfänger_innen[9] auswirken so tun dies auch abfällige Bemerkungen und ein ableistischer Umgang mit der deutschen Sprache[10]. ‚Spast’ ist ein gängiges Schimpfwort auf Pausenhöfen, welches auch noch Aufwind bekommt durch pseudo-Hip-Hop Gruppen die sich damit brüsten nicht behindert sondern cool zu sein: „Meine Mama und mein Papa, die meinen beide ich wär behindert – Aber das ist Schwachsinn: Ich bin cool“. Oder Hip Hop Crews, die froh sind selber keine ‚Spasten’ zu sein und ihr Erbgut anbieten um die Vererbung von Behinderungen zu verhindern: „Leih mir deine Frau aus, dann wird wenigstens dein Sohn kein Spast’. Neben dem Abfälligen Sprechen über Behinderung verfällt diese Argumentation in eine ähnlich euthanistische Erklärungsargumentation von Behinderung, die wissenschaftlich gesehen eigentlich als überholt gelten sollte, wobei hierbei prädiagnostische Diskurse auch nochmal näher angeschaut werden könnten[11].

In allen Diskursen und Phänomenen die in Zusammenhang mit Behinderung gebracht werden können – ob sie nun von der Gesellschaft ausgeblendet werden oder nicht – wird die immanente Möglichkeit systematisch ausgeblendet, dass jeder Mensch zu jeder Zeit den Körper, für den die Welt um ihn gebaut ist, bzw. die Fähigkeiten desselben, verlieren kann. Es kann jedem Menschen passieren. Diese Möglichkeit innerhalb von einer Millisekunde aus deinem dir bekannten und vertrauten Leben gerissen zu werden scheint niemand auf dem Schirm zu haben. Es kann vorbereitet und unvorbereitet passieren aber niemand auf dieser Welt ist frei von dieser Möglichkeit und das sollte sich jeder Mensch vor Augen halten: Auch ich kann morgen in dieser Welt auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen sein, auch ich kann morgen eventuell diese Treppe, diese Stufe nicht mehr ohne weiteres bewerkstelligen. Auch ich kann morgen vielleicht nicht mehr den Warnhinweis lesen und auch ich laufe Gefahr eine Durchsage nicht mehr hören zu können. Es kann sich alles ändern und dafür reicht eine Millisekunde.

 


 

[1] s. z.B.: http://www.sueddeutsche.de/bildung/inklusion-kultusminister-beraten-ueber-integration-behinderter-schueler-1.1543880

[2] Vermutlich gibt es weltweit kein Land das Barrierearme Architektur forciert: http://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/Verkehr-Bahn-Saarland-Agenturen-Bahnhoefe;art2814,5846780

[3] Mit unter profitieren dann sogar nur die Unternehmen davon, die Teilhabe & Partizipation ermöglichen sollen, s. https://www.taz.de/!5116296/ oder http://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/aktien/prothesen-weltmarktfuehrer-otto-bock-will-2017-an-die-boerse/12039808.html

[4] Es gibt keinen Exit, Inklusion in Deutschland mangelhaft: http://blog.zeit.de/stufenlos/2015/04/20/un-ausschuss-inklusion-deutschland-magelhaft/

[5] Wie es wäre wenn die ‚Normalität’ anders gedacht wäre, zeigt das Social Justice Projekt in einem Video ab Minute 4.14: https://youtu.be/P7_cMziG1Fc (insgesamt ein sehr sehenswerter Beitrag)

[6] Damit sind nur sehr wenige Menschen gemeint, die von der dominierenden, etablierten Bevölkerung fein säuberlich ausgesucht werden. In anderen Worten suchen sich Weiße, mit abled Bodys ausgestattete Menschen (größtenteils wohl Hetero und Männlich) die Menschen raus die sie als ‚fähig’ und nützlich halten.

[7] s. z.B. die Ausbeutung der rumänischen Wanderarbeiter*innen auf der Berliner Baustelle zur ‚MallOfBerlin’, die durch ihre Entscheidung vor Gericht zu ziehen sogar doch noch Recht erhielten: http://www.tagesspiegel.de/berlin/mall-of-berlin-arbeitsgericht-spricht-geprellten-bauarbeitern-lohn-zu/12148442.html

[8] (guter) Radiobeitrag des BR zu Armut und wie ‚Arme’ in der deutschen Gesellschaft betrachtet werden: http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/kolumnen-sendungen/generator/generator-warum-unsere-gesellschaft-die-armen-verachtet-100.html

[9] s. dazu: http://maedchenmannschaft.net/hartz-iv-ist-scheisse-weg-mit-den-sanktionen-und-leistungseinschraenkungen/

[10] Eine ironische Kurzgeschichte über ein Treffen der ‚Blinden Kuh’ und der ‚Tauben Nuss’: http://leidmedien.de/aktuelles/sichtweisen/blinde-kuh-trifft-taube-nuss-metaphern-der-behinderung/

[11] Wer darf leben? Wer entscheidet das? http://www.zeit.de/feature/down-syndrom-praenataldiagnostik-bluttest-entscheidung